+ Zum Beginn + Die Erschaffung des Täles + Gäbe es kein Täle, müßte man es erfinden!
+ Vom Zelt zum Neubau + Interessantes aus alten Ordnern  
+ "Kommt Frauen: Schöpfen" + Täleskinder in Zahlen  

Die Erschaffung des Täle

Vor fünfzig Jahren bevölkerte eine ganz besondere Art von Stadtindianern zum erstenmal den Eichholzer Wald. Die Gegend war fruchtbar, aber feucht. Trotzdem schlugen sie im Täle ihre Tipis auf. An Wimpeln und Zeichnungen konnte man die einzelnen Stämme erkennen. Ihre Jagdgründe reichten vom Magstadter Wald bis in die Sindelfinger Innenstadt, die damals noch sehr weit weg lag. Nach und nach rückte sie näher, und auch die Zelte wichen festen Bauten. Vieles hat sich im Lauf der Zeit verändert, aber noch immer zieht der Reiz dieser Landschaft, die vier Wochen Freiheit verspricht, Nachfolger an.

Zelte

Pfarrer Wilhelm Scheerer

Mit zwölf Zelten der amerikanischen Armee begann der Böblinger Pfarrer Wilhelm Scheerer auf Geheiß des Kirchenbezirks Böblingen das „Waldheim Eichholzer Täle Böblingen-Sindelfingen“ im Sindelfinger Wald. (Foto Nr. 10) Die Wohnhäuser ließ man in der Oberen Vorstadt hinter sich und passierte auf dem Buckel die alte Turnhalle des VfL, um durch die Streuobstwiesen dem Eichholzer Torsträßle zuzustreben. Im Täle selbst hatten 1946 oder '47 die CVJM-Mitglieder das Häuschen aufgebaut, das sie von der Steige unterhalb des jetzigen Krankenhauses geholt hatten. Außerdem gruben sie mit einem Bohrgerät einen Brunnen. An diese Dreckorgie erinnert sich zum Beispiel Immanuel Rühle, der als Zwölfjähriger mitgeschafft hat. Reizvoller empfindet er seine zweite Begegnung mit „dem Täle“ nach der Währungsreform. Wenn die Ferienarbeit auf dem Bau aufhörte, radelte er in den Wald, weil dort oft noch etwas zu essen oder zu trinken übrig war und vor allem wegen der Mädchen, die tagsüber als „Tanten“ arbeiteten. „Da war Atmosphäre! Es war der Treffpunkt der Jugendlichen.“
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Motive

Die aktiven Helfer/innen hatten meist andere Motive, ins Täle zu gehen. Für die Kochmütter dürfte - so kurz nach dem Krieg - der wesentlichste Anreiz gewesen sein, daß die Amerikaner nicht nur Zelte zur Verfügung stellten, sondern auch Lebensmittel. Viele der ersten Frauen, die für die Kinder Frühstücksbrote schmierten und Mittag- und Abendessen zubereiteten, waren Flüchtlinge.
Essen
Aber auch unter den Sindelfingerinnen sprach sich der Aufruf der evangelischen Kirche schnell herum - durch die Abkündigungen im Gottesdienst, im Frauenkreis, bei Nachbarinnen. Sie erhielten nicht nur eine kleine Aufwandsentschädigung, ihre Familien bekamen auch etwas zu essen. Selbst Kleiderspenden aus den Care-Paketen wurden an die Küchenfrauen verteilt. Die jugendlichen Gruppenleiter und -leiterinnen lockte neben dem Spaß die Möglichkeit, ihre Kasse aufzubessern. „Von meinem ersten Selbstverdienten hab' ich mir einen schwarzen Gummi-Gürtel gekauft, der damals so modern war“, erinnert sich Marianne Krauß (geborene Sautter). Und Irmgard Frank (geb. Blank) gab ihr erstes Geld für einen Rockstoff aus - vierzig Mark für vier Wochen Arbeit als Realschülerin, das war was!

Auch die Kinder strömten ins Täle, sofern es sich die Eltern leisten konnten.
Stroemen
„Wenn meine Schwester Margot und ich zwei Wochen ins Täle durften, haben wir uns ‚von‘ geschrieben“, unterstreicht Gerlinde Drechsler (geb. Decker) ihre Begeisterung. Außer den Böblingern, die Pfarrer Scheerer mitbrachte, war eine große Zahl Maichinger darunter. Viele von ihnen kamen nach der Konfirmation als Mitarbeiter/innen wieder. Bei Drechslers hat sich das Täle-Fieber noch auf die nächste Generation vererbt - kein Wunder, daß die drei Söhne im Täle mitmachen, wenn die Mutter immer noch dabei ist.
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Die Kochmütter

Leicht war die Arbeit nicht. Man stelle sich vor: Außer dem CVJM-Häuschen gab es auf der reichlich wäßrigen Wiese nichts - kein Gas, keinen Strom, keine Sanitäranlagen. Nur ein Herz-Häuschen mit zwei Toiletten, von einer halbhohen Wand getrennt, über die sich die Benutzer unterhalten konnten. Trinkwasser wurde in schweren Kannen aus der Stadt geholt. Im Waschhäuschen des CVJM installierte man eine Freiluftküche und stattete sie mit ungeheuren Goulaschkanonen aus. „Die Außenhaut hätte mit Wasser gefüllt werden müssen“, erzählt die erste Küchenchefin, Ruth Blank, „aber das hat uns keiner gesagt.“ So mußten die Frauen nach dem ersten Kochen stundenlang die Kessel auskratzen. Abgewaschen haben sie in großen Zinkwannen, die die Plastik-Generation höchstens noch aus dem Museum kennt. Diese Zuber dienten an heißen Tagen auch zur berüchtigten Täles-Taufe und zum fröhlichen Plantschen. Die Rezepte für den Speiseplan lieferte die Waldheim-AG in Stuttgart, wohin die Küchenchefinnen einmal im Jahr zur Fortbildung eingeladen wurden. Sie fuhren gerne hin. „Wir haben alles ausprobiert: Würstchen, sämtliche Gemüse und Brot. Mittags gab es Kaffee und süße Stückle“, Frau Blank und Frau Schmid genossen das nach der entbehrungsreichen Zeit in vollen Zügen. Sie ließen sich etwas über Vitamine erzählen oder Fischgoulasch vorstellen und gewöhnten sich an ausländische Gerichte, wie „Minestra“. Sie hätten halt Gemüsesuppe gesagt. In der ersten Zeit lieferte die amerikanische Armee Dosen mit Goulasch und Corned beef und so leckere Dinge, wie Ananas und Hershley's Schokolade. Kanister mit Trockenkartoffeln, Haferflocken und Haselnüssen sollten helfen, die Kinder aufzupäppeln. Das Mehl schleppten die Täles-Männer zum deutschen Bäcker, um Brezeln backen zu lassen.

Aus Resten zauberten die Küchenfeen Gugelhupf und waren wohl auch sonst recht erfinderisch. Gemüse und Salat bestellte die Täles-Leitung bei Sindelfinger Gärtnereien, die Milch in der Molkerei. „Die Kinder haben gern Wurst und Sauerkraut gegessen“, weiß Ruth Blank noch. Und wenn ihnen ein Gericht besonders gut geschmeckt hat, ließen sie eine „Rakete“ steigen. Manchmal veranstalteten die Jungs Wettessen. Dann schoben sie sieben Scheiben Brot 'rein. Die alte Dame schmunzelt, wenn sie daran denkt. Die Kinder konnten sich Nachschub holen, solange etwas in den Töpfen und Körben zu finden war. Sie sollten ja zunehmen, schließlich wurden sie bei der Anmeldung und am Schluß des Feriencamps gewogen.
Essen


Ruth Blank, von ihrer Nachbarin, Frau Hörner - wie sie, mit kleinen Kindern -, aufs Täle aufmerksam gemacht worden, begann 1948 ihren Dienst. Ihr Mann war noch in russischer Gefangenschaft. Als er ein Jahr später nach Hause kam, hatte er nichts gegen den Job seiner Frau einzuwenden und ging selbst als „der schnelle Siegfried“ in die Geschichte des Sommerlagers ein. Viele erlebten den späteren Kirchengemeinderat als etwas cholerischen, aber „konstruktiven Feuerwehrmann“, wie Dieter Jahn, einer der Täles-Geprägten, es ausdrückt.

Siegfried Blank half beispielsweise, Holz und Kohlen zu tragen, ohne die es kein Mittagessen gegeben hätte. Aus der Speisekammer der alten Halle, die 1950 gebaut wurde, mußten auch öfter die Lebensmittel gerettet werden, wenn der Keller nach starkem Regen unter Wasser stand. Ganz ungefährlich war die Treppe nicht; Pfarrer Scheerers Tochter fiel jedenfalls einmal herunter. Irgendwann wurde sie zugeschüttet. So ziemlich alle Ehemänner der Kochmütter packten tatkräftig mit an, wenn technische Daumen oder Muskeln gefragt waren beim Reparieren oder späteren Umbauten in der alten, anfangs vorne offenen Halle. Und bei den Festen im Täle gaben sie Getränke aus und karrten Nachschub heran.

Trotz der schweren Arbeit hatten die Küchenfrauen viel Spaß miteinander. Sie verbogen ihre Namen zu passenden Necknamen und erzählten sich Witze während des Gemüseputzens oder Abwaschens. Zwischen den Arbeitswellen erholten sie sich beim Fußballspielen. Mit Putzlumpen aufs Tor zu kicken, machte ihnen so schnell keiner nach. „Frau Blank war eine liebe Frau, zu allen nett“, sagt Berta Heim, die 1962 im Täle anfing. „Sie hat nie die Chefin 'rausgehängt.“

Da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter früher kamen und später nach Hause gingen als die Kinder, konnten sie nicht die Busse benutzen, die die Kinder transportierten. Sie liefen früh aus der Burggasse, der Bahnhofstraße, der Riedmühlestraße oder woimmer sie wohnten ins Täle und schleppten sich abends heim. Einmal, da hatte jemand aus der Familie Hellener, die in der Wettbachstraße wohnte, Milch im Leiterwägele gebracht. In diesen Wagen setzten sich müde Kochmütter - unter ihnen Ruth Blank - und rollten mit Juchhu den Berg in die Stadt hinunter. Autos kamen ihnen damals noch nicht entgegen.
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Die Gruppen

Das Treiben der Kinder spielte sich im Freien ab, es sei denn, es regnete. Dann kuschelten sie sich in die Zelte, lauschten den Geschichten ihrer Betreuer/innen oder sangen Lieder. Die Gruppen wurden nach Alter und Geschlecht eingeteilt. Jede Gruppe hatte einen Wimpel und einen Namen, den sie auch ans Zelt pinselte. Die Buben nannten sich grimmig „Apachen“, „Legionäre“ oder „Löwengrube“, die Mädchen hatten es mehr mit Märchenfiguren: „Rotkäppchen“ oder „Die sieben Schwaben“, schlimmstenfalls mit bissigen Viechern als Abwehr gegen böse Geister, wie „Wespennest“. Die Betreuung der Jüngsten und der Ältesten übernahmen ausgebildete Fachleute - Kindergärtnerinnen, angehende Lehrer oder Pfarrer und Diakone. Das Fröbel-Seminar in Stuttgart, das Uracher Stift und Kloster Schöntal waren Nester, aus denen begeisterte Täle-Mitarbeiter/innen einflogen. Die Sindelfinger Schülerinnen und Schüler, die sich als „Hilfstanten“ oder „-onkel“ meldeten, erhielten in Wochenendseminaren Einblick in Pädagogik und Anregungen für Sport und Spiele. Turnlehrer Rein in Stuttgart-Riedenberg zeigte ihnen zum Beispiel, welche Sportarten man ohne Geräte treiben kann und wozu einfache Hilfsmittel, wie eine Bank gut sind: zum Balancieren, Drüberhüpfen, Drunterkriechen.... Die Täles-Olympiade mit Eierlaufen, Sackhüpfen, Hindernislaufen und jeder Menge Wettspiele war denn auch jeden Sommer einer der Höhepunkte.
Essen
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Pädagogik

Das mit der Pädagogik hat den Sautter-Schwestern Barbara (verh. Steegmüller) und Marianne (verh. Krauß) sehr imponiert. „Da haben die Kinder noch pariert.“ Barbara hörte die Vorträge als 15- oder 16jährige allerdings noch mit Kinderohren an. Sie genoß es nachher bei der Arbeit sehr, etwas sagen zu dürfen und die anderen mußten folgen. Die Titel „Tante“ und „Onkel“ sollten ja auch helfen, ihnen Respekt zu verschaffen. Marianne Krauß erzählt mit fröhlichem Grinsen ein Beispiel ihrer Erziehungskunst: Ein Kind lehnte das servierte Essen mit einem lauten „pfui Deifel“ ab. „Was heißt hier ‚pfui Deifel‘! Erst wird probiert!“, donnerte Tante Marianne. Das nächste Kind echote nach dem ersten Bissen: „Pfui Deifel, schmeckt das gut.“
Essen
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Binsenkörbchen

Es blieb aber auch viel der eigenen Phantasie und Kreativität der Gruppenleiter/innen überlassen. „Wir haben meist aus Naturmaterial gebastelt, Körbchen aus Binsen geflochten und mit Moos oder Beeren gefüllt“, erzählen alle, die dabei waren. Die Zutaten wuchsen im Täle. Pilze konnten die Kinder sammeln - Pfifferlinge im Eichholzer Wald! Die Buben wetzten den Fröschen hinterher. Ein Renner bis heute ist Moosburgen bauen.
Essen

Jede Gruppe baute sich darüberhinaus aus kleinen Bäumen und Zweigen ihr Lägerle im Wald, möglichst versteckt, damit die anderen es nicht überfallen konnten. Dahin trugen sie ihre Schätze, zum Beispiel von zu Hause mitgebrachte Zwetschgen. Einmal mußte Pfarrer Graser allerdings die Kinder vor einem Hornissennest an einer Baumwurzel retten oder die Hornissen vor den Kindern.
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Hygiene natur

Den Ärzten des Gesundheitsamtes, die am vierten Tag nach Ferienbeginn erschienen, standen scheinbar oft die Haare zu Berge. Denn lange Zeit flossen die Abwässer der Küche einfach so in den Hinterweiler Bach und die Hinterlassenschaften der zehn Plumsklos hinter der alten Halle einfach so in den Wald. Als Kolibakterien auftauchten, wurden die Donnerbalken mächtig mit Sagrotan geschrubbt - von einer Küchenfrau, die extra dafür abgestellt werden mußte. Für die Kinder standen stets Schüsseln mit Seifenwasser zum Händewaschen bereit.
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Pfarrer Heinrich Graser

1952 übernahm der Sindelfinger Pfarrer Heinrich Graser die Täles-Leitung, weil Pfarrer Scheerer für das neue Waldheim auf dem Böblinger Tannenberg gebraucht wurde. Unter seiner Ägide bekam die alte Halle eine Frontwand, so daß sie für die Mahlzeiten benutzt werden konnte und die meisten Gruppen bei schlechtem Wetter Unterschlupf fanden. (Foto 21) Für die älteren Jungen standen außerdem drei große Zelte an der Stelle der heutigen neuen Halle. Pfarrer Graser versuchte außerdem, Geld zu beschaffen, um an die alte Halle eine Küche anzubauen. Das ersparte nicht nur die Miete an den CVJM, es erleichterte ganz wesentlich die Arbeit der Kochmütter. Denn die Zahl der Kinder war 1951 auf über 500 gestiegen.

Pfarrer Graser wird als sehr korrekt und strenggläubig beschrieben, „ganz hochdeutsch“. Er habe alles ernster gemacht, nicht so auf die Kinder orientiert. Mit den Gruppenleitern und -leiterinnen setzte er sich zwei Abende in der Woche zur Bibelstunde zusammen und erwartete, daß dieses Wissen weitergegeben werde.

Die Täles-Kinder gingen aber auch mal die Tannenberg-Kinder besuchen und umgekehrt.
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Verschiedene Eindrücke

Marianne Krauß begann damals als Hilfstante bei Frau Schönharting, ihre Schwester Barbara kam noch als „Kind“ ins Täle. Beide waren von den Blank-Schwestern angeworben worben. Barbara hatte anfangs Probleme beim Essen. Sie kannte Körbe nur für schmutzige Wäsche oder als Kartoffelkörbe. Deshalb graulte sie sich vor den geschmierten Broten, die im Täle aus Körben verteilt wurden. Und Kakao aus Eimern kam ihr ebenfalls suspekt vor. Ihr gefiel es erst so richtig, als sie selbst als Gruppenleiterin agieren konnte, besonders bei den phantasievollen Reigen und beim Theaterspielen. Sie mimte besonders gern „Dornröschen“ oder die Bauersfrau, die abends die Schuhe ihrer Kinder zählt und immer ein Paar vermißt.

Ulrike Spieß (geb. Jahn) fuhr dagegen mit Begeisterung jeden Tag zum Täle, das heißt bis zum Waldrand. Von dort mußten die Kinder in den ersten Jahren laufen. Während der Busfahrt sangen sie schon ihre Lieblingslieder, zum Beispiel: „Wer nur den lieben langen Tag ohne Plag, ohne Arbeit vertändeln mag, der gehört nicht zu uns. Wir steh'n des Morgens zeitig auf und hurtig mit der Sonne Lauf sind wir, wenn der Abend naht, nach getaner Tat, eine muntere fürwahr, eine fröhliche Schar.“ Der gleichbleibende Rhythmus von Morgen- und Abendandacht gab ihr eine Geborgenheitsgefühl. (Foto 22) Ulrike Spieß erinnert sich noch an ihre erste „Tante“, Ute Schmid, die so gut zeichnen und malen konnte. Und Binsenkörbchen flechten und Moosburgen bauen. Wegen der Moosburgen ist Ulrike später als Realschülerin schon vor Beginn des Täles in den Wald gefahren, als sie eigentlich zur Oma hätte radeln sollen.
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Pfarrer Edmund Becker

Im Frühjahr 1955 zog Familie Becker aus Stuttgart nach Sindelfingen. Pfarrer Becker war der erste Seelsorger für den Sindelfinger Norden, sprich: Rotbühl und Schleicher. Sonst existierte noch nichts. Auf der Maulbronner und der Ditzinger Straße standen noch Obstbäume. Das Pfarrhaus im Rotbühl war auch noch nicht fertig, deshalb wohnten sie zuerst bei Pfarrer Morel an der Martinskirche. Edmund Becker war mit 55 Jahren der älteste Pfarrer in Sindelfingen. Da er aber vor dem Krieg bereits als Jugenddiakon gearbeitet hatte, befanden die Kollegen: „Du kannst das“ - das Täle leiten, nämlich. Und er konnte, wenn der Weg zu Fuß auch manchmal weit war. „Wenn er während der vier Wochen Täles-Freizeit Trauungen hatte oder zu Beerdigungen auf die Burghalde mußte, nahm er ein Taxi, sonst hätte er's gar nicht geschafft“, erinnert sich seine Tochter Christa Böhringer.
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Viele Mitarbeiter

Pfarrer Becker kümmerte sich um alles. Mit vom Daimler geliehenen Lastwagen holte er Lebensmittel bei der Waldheim-AG in Stuttgart ab. Er erbettelte bei IBM und Daimler Geld für ein Klettergerüst und den Rundlauf. Beim Hundeverein bat er um die Genehmigung, die Wiese mitbenutzen zu dürfen. Und er brachte junge Leute mit ins Täle, die er aus der Pfarrerausbildung kannte: Bernd Hagen, Hartmut Otto. „Die wohnten bei uns, bis die Onkel- und Tanten-Zimmer über der alten Halle fertig waren“, erzählt Christa Böhringer. Hartmut Otto war ein „Mordsanimateur“ (Christa Böhringer) und neben Gottfried Geiger und ................ Wohlfahrt einer der beliebtesten Gruppenleiter. Viele Namen werden aus dieser Zeit genannt: Edwin Seeger, „Trüüler“ Winfried .............., Claus Richter (Doktorand), Hans-Peter Becker (stud. theol.), Dieter Jahn, Martin Pfeil (Diakonenpraktikant), Rainer Müller (stud. theol.), Marlene Fehrmann, Jörg Stepper, Siegfried Heydel, Siegfried Klöpfer (stud. soz.päd.), Gerhard Eisele (CVJM-Sekretär), Gemeindehelferin Gretel Blümel, die mit den großen Mädchen viel Bibelarbeit machte, Käthe Sieber, Winfried Kretschmar, Christa Schultz, Edeltraud Schultz, Hildegard Klemm, Gemeindehelferin Gudrun (?) Rigoni, Stadtmissionar Traugott Kischkel, Gisela Ganzhorn, Brigitte Kasper, Erwin Goerke, Manfred Wagner, Jochen Ulmer, Brigitte Staub, Renate Klemm, Bernd Klein, Walter Gürtler, Jürgen Raible, Jürgen Tews, Paul Bischoff, Anneliese Herzog und .................. Hugendubel. Pfarrer Becker schickte seine Mitarbeiter/innen einen ganzen Tag zur Instruktion nach Stuttgart, wo sie für jeden Tag ein Programm für gutes und schlechtes Wetter ausarbeiteten.
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Neue Anregungen

Darüberhinaus holte er Professor Hils von der Stuttgarter Kunstschule, der mit den jungen Leuten Techniken ausprobierte, um Kreatives mit den Kindern gestalten zu können, wie Zeitungsmännchen reißen, zum Beispiel. Paul Hansen, der Leiter der Sindelfinger Sonderschule für Lernbehinderte, verstand, tolle Masken zu bauen. (Foto 23) Er drehte auch einen Täles-Film und verfaßte das Täle-Lied: „Morgens, wenn der Wecker klingelt, stehen wir schnell auf. Und mit einem frohen Lied beginnt der Tageslauf. Waschen, anziehn, nichts wie raus. Mutter ruft noch aus dem Haus: ‚Habt ihr auch den Hals gewaschen?‘“ - Alle Kinder: ja! - Und der Refrain: „Drunt im Täle ist das Gras so grün, wo die bunten Blumen blühn. Steht ein Haus und heraus klingt die Melodie: Drunt im Täle ist es so grün.“ Pfarrer Becker selbst hatte ein Riesenrepertoire an Liedern, Sketchen und Singspielen. Gudrun Blank denkt mit Entzücken an Lieder, wie „Die Affen rasen durch den Wald“ oder „Armer schwarzer Kater“. Berühmt ist seine szenische Darstellung „An der Gartentür“: „Hat mein Liebster mir still die Hand gedrückt, ach wie war mir da, als mir das geschah, als mein Liebster mir still die Hand gedrückt.“ (Foto 24)
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Pädagogik ist doch nicht so einfach

Pfarrer Beckers Töchterlein Christa hatte übrigens nichts mit dem Täle am Hut, bis sie von ihren Klassenkameradinnen Gudrun und Irmgard Blank aufgefordert wurde: „Das ist toll, da gehst du hin!“ Die beiden waren ja schon als Kinder Täles-erprobt und sammelten nun als Gruppenleiterinnen ihre Erfahrungen. Irmgard betreute einmal neun und zehn Jahre alte Buben, die eigentlich ganz verschmust waren. Als sie mit ihnen in den Wald auf Schnitzeljagd ging, drehten sie plötzlich auf und fesselten ihre Tante im Übermut an einen Baum. Irmgard Frank: „Mir hat's am Schluß die Tränen in die Augen getrieben.“ Sie bevorzugte fortan Mädchen-Gruppen. Auch Gerlinde Drechsler hatte Schwierigkeiten mit dieser Spezies Mensch. Als sie 1960 zusammen mit Hans-Peter Becker dreißig neunjährige Jungen bändigen sollte, schrieb sie in ihr Tagebuch: „Riesig viel blaue Flecken.“ „Ich hatte von Pit gehofft, daß er durchgreift“, erzählt sie, „aber der war so gutmütig, es war eine Katastrophe. Ich glaub, er hat das mit der Bibel zu ernst genommen, daß man keinen verhauen soll.“ In ihrem Tagebuch steht am Ende der vier Wochen: „Es war schön, doch ich habe nicht gewußt, daß Tante-Sein so anstrengt.“ Auch sie übernahm im folgenden Jahr zusammen mit Ilona Steudle eine Mädchengruppe.
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Alltag

Damals gab's übrigens noch keine „Technis“, da mußten die Gruppenleiter/innen noch alles selber machen: das Material holen, die Tische decken...... Gerlinde Drechsler hat gern mit ihren Kindern gebastelt. „Wenn Pfarrer Becker ein bißchen Geld hatte, kaufte er Sisalschnur und Bast, erbettelte Klingeldraht bei den Handwerkern und Lederreste in der Daimler-Sattlerei. Mit diesen Materialien und Wollresten von zu Hause entstanden ganze Menagerien und Geburtstagsgeschenke für die Mütter daheim. Gerlinde Drechsler erzählt auch von Hans Dietz, der in der Lehrerausbildung steckte. Er brachte als erster zwei oder drei Hilfsschüler mit und integrierte sie so gekonnt in die Gruppe, daß es niemandem auffiel. Später betreute „Oma Renz“ behinderte Kinder im Zwergenhäusle, das bis heute so heißt, weil dort die kleinen Geschwister - ab vier Jahre - der Täles-Kinder untergebracht waren.
Zwergenhaeusle

Sie sollten einen Ruheraum zum Schlafen haben. Die Großen mußten zwar auch alle Mittagsschlaf halten, rollten ihre Decken aber irgendwo im Wald oder auf der Wiese aus.
Ruhen

„Da hat man nicht geblinzelt, obwohl es schwierig war, bis um halbdrei ruhig liegen zu bleiben“, weiß Gerlinde Drechsler noch aus ihrer Kinderzeit. Wer lieb geschlafen hatte, bekam einen Bonbon. Es war trotzdem nicht jedermanns Sache. Nach dem Mittagsschlaf wurden die Decken gruppenweise mit Namensbändeln dran wieder weggeräumt.
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Zeremonie

Der Tag begann immmer mit einem Morgenkreis, zu dem Hartmut Otto mit seiner Trompete rief. Pfarrer Becker hielt eine kleine Andacht, und dann schallte aus fünfhundert Kehlen: „Er weckt mich alle Morgen“ oder „Es tagt der Sonne Morgenstrahl“. Danach stürzten sich alle auf die Marmeladenbrote und den Blümchenkaffee oder Kakao. Jeder Tag endete um 18.00 Uhr mit Trompeteblasen und einem Abendkreis. Der Pfarrer faßte die Tagesereignisse zusammen und endete mit einem Wort zum Ruhigwerden. Nach dem Lied „Abend ward, bald kommt die Nacht“ verschwanden die Kinder in den wartenden Bussen. (Foto 27) Samstags gab's nach dem Mittagessen - oft Linsen, Spätzle und Saiten - noch eine Brezel oder einen Wecken und den Mittagskreis als Abschluß, denn danach mußte die Halle geputzt werden. Das war eine Zeremonie für sich: Ein Eimer Wasser ergoß sich auf den Fußboden, und dann schoben die „Putzfrauen“ mit nackten Füßen und einem Schrubber das Wasser bis zur anderen Wand. Nur bei hartnäckigen Flecken rieben sie extra nach. Auf der gegenüberliegenden Seite wurde mit Lappen aufgewischt. Zur Erholung kurvten die fleißigen Hausfrauen anschließend mit den rollenden Bänken durch den Saal.
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Highlights

Die Kinder durften auch die einmal übernachten, allerdings nur mit Genehmigung der Eltern.
Ue-Zettel

(Nr. 28: formloser Übernachterzettel / ZETTEL.BMP).
Barbara Steegmüller denkt mit ehrfürchtigem Schaudern an den dunklen Wald - keine elektrischen Lampen, nur die Gaslichter, die so fauchten. „Das war arg schön. ‚Der Wald steht schwarz und schweiget‘ - nur ein Feuer in der Mitte. Da hab ich erst ein Gefühl für die Natur bekommen.“ Es wurde auch jede Gelegenheit genutzt zu festen. Dieter Jahn erinnert sich, daß die Gruppe um Martin Pfeil ein ganz tolles Lägerle im Wald gebaut hatte. Das wurde mit Musik und einem großen Zug aller Täles-Bewohner eingeweiht. Mit Küchenmusik - also einer Kapelle aus Waschzubern, Kochlöffeln und Deckeln - wurde auch die neu geteerte Schelles-Allee gebührend ihrer Bestimmung übergeben. Den inoffiziellen Namen erhielt der Weg zum Täle nach dem armen Straßenfeger Schelle, der beim Teeren mitgeholfen hatte. Sein Töchterchen bekam zu diesem festlichen Anlaß von Täles-Mitarbeiterinnen neue Kleider. Stadtspiel - das ist Musik in den Ohren aller Beteiligten, es sei denn, da ging was schief. Das Spiel fand in Sindelfingen statt, wie der Name schon sagt, und zwar meistens an einem Markttag. Die Hälfte der Tanten und Onkel verkleidete sich so gut sie konnte - mit Gipsarm oder verbundenem Kopf, als Landstreicher, Hippi oder Marktfrau - und mischte sich unter die Leute. Die Kinder mußten sie suchen. (Die andere Hälfte der Betreuer übernahm die Aufsicht.) Dabei spielte die Parole eine wichtige Rolle, zum Beispiel: „Haben Sie heute schon gefrühstückt?“ Heikel werden konnte die Situation, wenn man einem Passanten auf den Kopf zu sagte: „Mein Herr, Sie haben Haarausfall“ und es war keiner aus dem Täle. (Foto 29) Der Elternachmittag und die Abschlußveranstaltung waren jedesmal ein Ereignis größeren Ausmaßes nicht nur für die Kinder, sondern auch für Eltern, Großeltern und alle, die sich auf die Socken ins Täle machten. Sie wurden freundlich bewirtet und sangen und spielten dafür mit. Pfarrer Becker griff in seine Trickkiste und vergnügte Mitspieler wie Publikum mit Gags, wie „Hörst du den Pfiff?“ Dabei mußte jemand einen Keks abbeißen und einen Schluck trinken und dann sagen: „Piff, paff, piff“. Nach mehreren Keksen war der Mund so trocken, daß mehr Krümel als „pff“ herauskamen. Scharade war ebenfalls ein beliebtes Spiel, besonders „Die letzte frißt“. Polonaisen gehörten zum Programm, und hochgelahrte Bands traten auf (Foto 31a). Und die Gruppen kamen ganz groß heraus, die weltberühmte Stücke aufführten. Gudrun Otto studierte mit Paul Bischoffs Hilfe mit ihren Kindern ein Menuett ein. Ulrike Spieß choreografierte auf Händels „Wassermusik“ eine Reifengymnastik. „Die Vogelhochzeit“ und der Zirkus verlangten nach phantasievollen Kostümen und Masken. Und die Gruppe von Irmgard Blank führte gar eine Oper auf, die entweder Pfarrer Becker oder der Jugendleiter Wohlfahrt gedichtet hatte. Dieses umwerfende Werk begann so: „Unlängst schrieb ich eine Oper. Die war in der Tat ganz proper, denn gleich in der Ouverture kam die schöne Arie für: ‚Holla ria, ria ho, holla ria, ria ho.‘ Im ersten Akt, da sitzt ein Ritter in dem Schloß am Fenstergitter. Und in seinem höchsten Ton singt er diese Arie schon: ‚Hola ria, ria ho,..‘ Selbst der Säugling in der Wiege, auf der Nase eine Fliege, quakt in seinem höchsten Ton diese neue Oper schon....“ Elisabeth Schwenk (verh. Becker) als Braut, Dorothea Heim (verh. Reese) als Bräutigam und Dirigent und Barbara Witt als Besuch spielten die Hauptrollen in diesem ergötzlichen Stück. (Foto 31)
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Die Frau mit dem dicken Portemonnaie

Bei diesen Großveranstaltungen kam der Täles-Belegschaft Hilfe aus der Stadt. Kirchenpflegerin Elsa Bräuning saß in persona auf der, nee, an der Kasse und verkaufte Essen- und Getränkemarken (Foto 44). Beim Großeinkauf vorher hatte sie Pfarrer Becker schon begleitet. Sie erstellte sowieso die ganze Abrechnung für die Kinderstadtranderholung. Damals mußten sich die Kinder respektive die Eltern noch im Pfarrbüro in der Ziegelstraße anmelden. „Früh um acht standen die ersten schon auf der Straße, und abends um acht klopften immer noch welche ans Fenster, wenn ich meine andere Arbeit fertigmachen wollte“, berichtet die Frau, die sogar im Ruhestand noch zweimal die Täles-Anmeldung durchzog. Rund sechshundert Kinder je Saison - manche besuchten das Täle ja nur zwei oder drei Wochen - aus allen Bevölkerungsschichten wollten ihre Ferien gemeinsam mit anderen Kindern verbringen.
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Stillstand is‘ nich!

Inzwischen hatten sich entscheidende Dinge getan. Die neue Halle wurde gebaut und mit ihr eine Hausmeisterwohnung, die die Familie Gerke bezog. Mit diesem Neubau wurden die restlichen Zelte überflüssig. Ein bißchen Romantik verschwand mit ihnen. Lydia Gerke wurde die Nachfolgerin von Ruth Blank in der Küche, mit der sie vorher schon zusammengearbeitet hatte. Sie machte jetzt zum Salat eine preußische Soße und samstags auch mal Streuselkuchen, erhielt aber dieselben Fortbildungskurse und Speisepläne wie Ruth Blank. Und sie war genauso erfinderisch in der Resteverwertung wie sie. Gerlinde Drechsler erinnert sich an den raffinierten Brotaufstrich aus Wurst, Gurken und Zwiebeln, der ihr sehr gut schmeckte. Einmal passierte ein Unfall in der Küche, bei dem es Lydia Gerke geschwind aus den Latschen haute. Es gab Fisch, ein teures Mittagessen, der für so viele Leute vorgebacken und warmgehalten werden mußte. Dreißig Portionen gehen auf ein Blech. Beim Servieren holt eine Küchenfrau so ein Blech, dreht sich um - die Chefin schreit „Vorsicht!“ - und rennt gegen den Herdblock, der mitten in der Küche steht. Sie fällt hin, und dreißig Portionen liegen auf der Erde. „Es war schon eng“, schnauft Lydia Gerke noch in der Erinnerung, „aber da mußte ich 'raus und erstmal heulen.“ Im Saal dreißig Kinder, die noch etwas zu essen bekommen müssen, und zwar sofort. Also hat sie eine Dose Frühstücksfleich geöffnet und 'was hingezaubert. (Foto 32) Da das Ehepaar Gerke beim DRK Bereitschaftsdienst machte, war auch gleich ein Nothelfer im Revier. Die zweite einschneidende Maßnahme war die Drainage in der Wiese. Fortan gab es keine nassen Füße mehr beim Morgenkreis und keine mittäglichen Schlammschlachten.
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Unfall

Ein ernster Unfall erschütterte die Täle-Mannschaft 1962. Dieter Jahn schildert ihn so: „Ich war mit meiner Gruppe zum Lägerlesbau an den Hölzersee gegangen. Dort angekommen, dachte keiner mehr an Lägerle; es hatte so viele Heidelbeeren, daß die jetzt viel wichtiger waren. Ehe der Vormittag zu Ende war, hatte ich einen Todesfall zu beklagen.“ Ein Junge hatte sich trotz Verbots entfernt und war in einem Steinbruch herumgeklettert und abgestürzt. Dieter Jahn: „Es geschah nichts daraus: keine Anklage, kein Vorwurf von Eltern; zurück blieb eine unsagbare Trauer. Mich hatte dies so verändert, daß alles, was mit dem Täle zusammenhing, noch viel intensiver wurde. In jenen Tagen fiel die Entscheidung, hauptberuflich in die evangelische Jugendarbeit zu gehen.“
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Liebesleid und Liebesfreud

Wo so viele junge Leute beieinander sind, knistert's schon ab und zu. Dann kommt's allerdings noch auf tausend Kleinigkeiten an, ob der Funke überspringt. Ulrike Spieß war ein begeisterter Fan des Rundlaufs. Sie kannte das aus den Ferien an der Nordsee, und nun stand so ein Gerät im Täle.
Rundlauf

Sie übte wie verrückt, bis sie Blasen an den Händen hatte. Damit mußte sie leider-Gott-sei-Dank zu dem Medizinstudenten Claus Richter gehen und die Wunden begutachten lassen. „Ich hatte ja Glück, die anderen kamen an den gar nicht 'ran“, lacht sie jetzt noch spitzbübisch. Am Abend gingen die Blasen auf und Schmutz kam hinein, so daß sie sich entzündeten. Tja, und damit endete die Täles-Zeit für diesen Sommer, denn sie mußte zum Arzt und den Arm in der Schlinge tragen. Nix mehr mit Rundlauf und nix mehr mit Medizinstudenten anhimmeln. Anders verlief die Operation bei Birgit Kautter und Hartmut Mehlis. Bei dem riesigen Altersunterschied von fünf Jahren bemerkten sie sich zuerst gar nicht. Hartmut Mehlis ging seit seinem fünften Lebensjahr ins Täle, machte alle Stationen vom Kind über den Hilfsonkel zum Onkel durch, aber guckte doch nicht auf so kleine Mädchen. Birgit tauchte als Kind sowieso nicht regelmäßig auf, weil sie diesen Mittagsschlaf auf den Rohrgestellen mit dem grünen Stoffbezug und den grauen Decken haßte. Aber später suchte sie einen Ferienjob und fand ihn just im Ferientagheim im Täle. „Dann hat sich das so entwickelt, wie sich so 'was entwickelt.“ Schließlich saßen die Gruppenleiter und -leiterinnen abends noch zusammen und gingen sonntags manchmal gemeinsam ins Kino. Vier Jahre später, am 2. August 1986, heirateten die beiden. Die eine Trauzeugin war Brigitte Zickner, die Frau des pädagogischen Leiters. Alle drei liefen mit „ihren Kindern“ zur standesamtlichen Trauung ins Rathaus, wo Sigbert Gerke, der älteste Sohn der Täle-Hausmeister, eine kindgerechte Zeremonie veranstaltete. Anschließend marschierten sie zum Marktplatz und kauften dreißig Eistüten für ihre Gäste. Eine fehlte komischerweise. „Sven Steegmüller, der Fetz“, hatte sein Eis ganz schnell aufgelutscht und stellte sich noch einmal hinten an. Zurück im Täle - „Wir hatten schließlich Dienst!“ - feierten sie, jeweils am festlich geschmückten Tisch ihrer Gruppe, den ersten Teil der Hochzeit und machten dann „ganz normal weiter“. Erst abends gingen sie mit ihren Eltern und Geschwistern fein essen. Selbst am Samstag, vor der kirchlichen Trauung mit dem damaligen Täles-Pfarrer Jürgen Kaiser, spurtete Birgit noch ins Täle, weil Elterntag war. An diesem Abend wurde aber mit Verwandtschaft und Täles-Freunden im Eichholz heftig gefeiert. (Foto 34) Mittlerweile war das älteste ihrer Kinder mehrmals im Täle. Sie sind nicht das einzige Paar, das sich während der Kinderfreizeit fand. In den Akten liegt die Hochzeitszeitung von Hilde Pfander und Helmut Braunwald. In jüngster Zeit heirateten Reinhold und Heike Sommerer, Arno und Christiane Furchner, Hans und Sybille Rothacker und Anna und Christoph Heiden.
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Individualisten

Oberonkel Hartmut Otto - „So'n Komiker wie der, der müßte zum Theater gehen. Der ist aber doch Pfarrer geworden!“ - Gerlinde Drechsler schüttelt jetzt noch den Kopf. Dieses Allround-Talent konnte nicht nur Trompete spielen, Hummeln nachmachen und jede Menge Sketche improvisieren, er war immer zu einem Spaß aufgelegt. Schon morgens, wenn er aus seinem Kuckucksnest die Treppe herunterkam - als Auswärtiger schlief er über der Küche - blödelte er die Kochmütter an: „Frau Ganzhorn? - Ja, zwei Halbhorn gibt ein Ganzhorn.“ (Foto 33) Er verbrachte die Nächte nicht immer allein. Manchmal schliefen noch weitere Mitarbeiter da. Aus Spaß gaben sie sich einmal Frauennamen und redeten sich auch so an. Hartmut Otto drehte am Abend noch eine Runde und wurde dabei von einer Polizeistreife aufgegriffen und nach Hause gefahren. „Ich hatte aber keinen Schlüssel mit. Als ich ‚Emma! Olga!‘ rief, guckten sich die Polizisten ganz merkwürdig an und stiegen schnell ins Auto ein“, freut sich der Schlawiner, den einige vielleicht als Pfarrer in Magstadt erlebten, noch „im hohen Alter“. Und er lacht auch über sich selber, wenn er an eine Situation denkt, in der er die Nacht ebenfalls nicht allein verbrachte. Mit seiner späteren Frau hockte er sehr verliebt die ganze Nacht auf einem Hochsitz, „ganz brav händchenhaltend“, wie er betont. „Es war ja Sommer, und in so einer Situation ist einem nicht kalt.“ Als sie am Morgen herunterstiegen, kam ihnen prompt Frau Gerke entgegen. „Mir fiel nichts besseres ein, als sie zu fragen, ob sie auch mitkommen will, Hasen zu beobachten.“ Von Hartmut Otto im Täle getauft - aber ein völlig anderes Kaliber ist Wilfried Coulon. Da wundert sich selbst Elsa Bräuning, „daß er so fürs Täle arbeitete und sogar Urlaub nahm“, denn als Erstkläßler ging er erstmal stiften. Die Familie wohnte noch nicht lange in Sindelfingen, und im Täle gefiel's ihm überhaupt nicht. Das Essen schmeckte nicht, es war alles neu und wie ein Schock. Erst als Dreizehnjähriger tauchte er als inoffizieller Mitarbeiter von Traugott Kischkel wieder auf. Der war Stadtmissionar - heute heißt das „Diakon“ - an der Christuskirche, der ersten neuerbauten Kirche im Bezirk Böblingen seit der Reformation (laut Elsa Bräuning), und dort für die Kinderkirche zuständig. Wilfried Coulon half ihm im Täle bei all den Dingen, die heute die Technis tun, während sich Traugott Kischkel in der Verwaltung nützlich machte. Drei Jahre später war Wilfried Hilfsonkel, und von seiner letzten Gruppe 1968 oder '69 hebt er sich noch Zeichnungen als Erinnerung auf. Er avancierte zum Hilfs-Sheriff und erhielt Einblicke in die Leitung und Verwaltung. Dazu gehörte zum Beispiel, Unfallmeldungen an die Versicherung zu schreiben. Diese Formulare stanken dem sonst so superkorrekten Menschen offensichtlich, denn 1975 schrieb er, als ein Mitarbeiter von einer Wespe gestochen worden war, in die Spalte: „Welche Maßnahmen wurden getroffen, um ähnliche Unfälle in Zukunft zu verhüten?“ „Ermahnung an die Insekten“. Die Schilderung des Unfallhergangs brachte ihm sogar eine Rüge des Oberkirchenrats ein; da hatte er getippt: „Während der Mittagspause, in der der Verletzte Kindergruppen beaufsichtigte, setzte sich ein Insekt auf seine rechte Hand und stach unbarmherzig zu. (Das Insekt konnte sich unerkannt entfernen).“ Zusammen mit Pfarrer Fritz Grüninger von der Martinskirche und dessen Frau begann er, den Bestand an Mitarbeiter/innen aufzunehmen, um sie zu Schulungen schicken zu können. In diesem Jahr wußte man bereits, daß Pfarrer Becker aufhören und der Eichholzer Pfarrer Ulrich Rincke das Täle übernehmen werde. 1977 wurde es durch Pfarrvikar Helmut Schäufele ans Hinterweil gebunden, und dann ging's organisatorisch ein bißchen durcheinander. Das ärgerte Wilfried Coulon, denn inzwischen hing sein Herz am Täle. Wie sehr seine Laune in den Keller ging, zeigt eine Stimmungskurve, die Ingrid Wiltschek malte, bevor sie die Täles-Leitung verließ.
Kurve

Als „göttliche Fügung“ empfand Wilfried Coulon die Ankunft von Klaus Zickner im Jahr 1981. Das war ein Mann nach seinem Geschmack. Der hatte schon zehn Jahre ein Waldheim in Göppingen als pädagogischer Leiter geführt und leidete nach seinem Umzug auf die Filder unter Entzugserscheinungen. Einen Tag nach dem Gespräch mit dem geschäftsführenden Pfarrer der Gesamtgemeinde, Walter Bachteler, und Wilfried Coulon vom Täles-Ausschuß begann der hauptberufliche Lehrer das Täle aufzuräumen und mit zwölf Helfern die Häuser zu reparieren und zu streichen. Drei Sommer fuhr er von den Fildern nach Sindelfingen, heute wohnt er in Donzdorf, 70 Kilometer weg, und ist so engagiert wie eh und je. „Er kommt teilweise jeden Tag zu Besprechungen mit dem Leitungsteam, den Mitarbeitern oder dem Täles-Ausschuß“. Das imponiert dem Finanz- und Wirtschaftsminister des Täle, der Wilfried Coulon inzwischen geworden ist. Auch er kämpft, wenn's sein muß, jeden Tag für's Täle. Immanuel Rühle, der die Stadtranderholung inzwischen als Kirchengemeinderat und als Architekt des neuen Küchengebäudes kennt, sagt bewundernd: „Wilfried Coulon hat gewußt, Türen aufzumachen und Darlehen zu finden. Er war immer der Motor. Er und Klaus Zickner hatten eine Vision und haben durch Motivieren der Mitarbeiter und durch Eigenleistungen viel Geld gespart.“ Organisieren liegt ihm, gibt Wilfried Coulon zu. Motiviert ist er durch die Erkenntnis, daß „diese Arbeit aus jedem Blickwinkel unbedingt notwendig ist“, für die Kinder, die Gemeinde, für das soziale Verhalten aller. Was ihn reizt, ist die tägliche Herausforderung, mit Menschen jeden Alters und jeden Standes zurechtzukommen, sich in der Leitung mit allen und allem auseinanderzusetzen und vor allem wieder zusammenzusetzen. „Ich hab' im Täle leben gelernt.“
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